AGITATION FREE - Momentum
VÖ: 25.11.2023
(MiG)
Genre: Kraut/Elektro/Avantgarde
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AGITATION FREE
Anfang der Siebziger gab es in Deutschland eine Reihe innovativer und gleichsam extremer Bands, die Berliner waren sicherlich einer der radikalsten. Von 1967 bis 1974 bestehend konnten sei gerade deswegen Erfolge feiern, gehörten gar zum kulturellen Programm der Olympischen Spiele 1972. So sehr die Musiker sich in alle Winde zerstreuten, so einflussreich waren sie anschließend in diversen Bands von NENA, über TANGERINE DREAM, BEL AMI, GURU GURU oder AHSRA bis hin zu den Soloscheiben von LÜÜL. Jener Lutz Ulbrich brachte AGITATION FREE Ende der Neunziger wieder an den Start, 2007 folgten Konzerte in Japan in Originalbesetzung. Nun erscheint nach 24 Jahren mit „Momentum“ wieder ein neues Studiowerk, an welchem schon länger gearbeitet wurde, so dass der mittlerweile verstorbene Gustl Lütjens noch zu hören ist.
Zwar ist das im Zeitalter vieler instrumentaler Post Rock-Bands nicht mehr so avantgardistisch wie zu ihrer Hochzeit, doch der progressive Ansatz ist weiter erhalten. Zu Beginn erinnert das roboterhafte des frankophonen Sprechgesangs von „Noveau Son“ an eine sphärische Form von KRAFTWERK. Doch es gibt mehr Gitarren, mehr Schweben, wenn auch die Atmosphäre ähnlich unterkühlt ist. Mit sechs Saiten weiß vor allem die Single „Lilac“ Akzente zu setzen, die leicht jazzige, dennoch melodische Leadgitarre wechselt sprunghaft zu düsteren halbakustischen Wüstenmotiven. Darunter liegen sehr viele Klangcollagen und Synthesizerschwaden, die hypnotisch in den Bann ziehen.
So Weltenbummler die Musiker stets waren, so weltmusikalisch strecken sie ihre Fühler aus. Hatte ich noch zuletzt bei den RIVAL SONS Referenzen zum Aussteigerparadies Goa ausgemacht, haben wir es hier mit Veteranen zu tun, die dessen Hochzeiten live miterlebt haben dürften. „Levant“ und „Momentum“ lassen vor dem geistigen Auge Hippies am Strand des indischen Ozeans tanzen. Genial werden diese Klänge in typischen Synthtexturen aufgelöst, wobei die Stimmung erhalten wird, immer wieder durchfurcht von gleisenden Gitarrentönen. „InDaJungl“ bringt am Ende noch die Steeldrum, deren Patterns sich teilweise von sanft pulsierender Elektronik oder Riffs übernommen.
Was sich durch alle Kompositionen zieht ist der extrem präsente wie verspielte Bass von Daniel „Danda“ Cordes, der völlig eigenständige Läufe benutzt, die jazzig, verquer und gleichzeitig warm sind. Ein ständiger Unruheherd in den Liedern, selbst im spartanisch schwebenden „Nightwatch“, in dem die Nacht thematisch ohne Worte hörbar umgesetzt wurde und die Leads am floydigsten ausfallen.
Der Viersaiter kann so Melodien wie auch die Sphärik in eine andere Richtung lenken oder die Stücke gar führen. Höhepunkt des abgedrehten Schaffens sicher „Shibuya“, das sich allen Kategorisierungen verweigert, frei improvisiert klingt. AGITATION FREE gelingt es Kraut Rock auch heute noch authentisch und lebendig darzubieten, der Hörer muss aber ein gewisses Maß an Abenteuerlust und Geduld mitbringen um sich darauf einzulassen.
7,5 / 10