RIVERSIDE - ID.entity
VÖ: 20.01.2022
(Inside Out)
Genre: Art/Prog Rock
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RIVERSIDE
Trotz der Pandemie war viel los im Lager der polnischen Prog-Szeneführer. Zuerst wurde mehr als sechs Jahre nach dem Tod von Pjotr Grudzinski Sessiongitarrist Maciej Meller zum offiziellen Bandmitglied befördert. Musikalisch machte vor allem Frontdenker Mariusz Duda von sich reden, mit seinem Nebenprojekt LUNATIC SOUL veröffentlichte er mit „Through Shaded Woods“ ein sehr sperriges, trockenes, folkloristisches Album. Dazu experimentierte er mit elektronischen Sounds der Siebziger und Achtziger, die RIVERSIDE auch schon entdeckten wie die Compilation „“Eye Of The Soundscape“ belegt. Da stellt sich die Frage welche Arbeit das neue Werk „ID.entity“ mehr beeinflusst hat und wie das Ende der Trauerarbeit.
Jene hatte das letzte Studioalbum „Wasteland“ deutlich geprägt, reduzierter, dazu dunkler als man es ohnehin von der Formation gewohnt ist. Nicht nur die Farbenpracht des erstmals nicht von Travis Smith gemalten Artworks zeigt eindeutig mehr Fülle und Wärme auf. Von Dudas jüngsten Beschäftigungsfeldern macht sich hier „The Lockdown Sessions“ am ehesten bemerkbar, denn derartige Klänge finden sich auch auf der Scheibe wieder.
Der Opener „Friend Or Foe?“ bietet Keyboardlinien auf, die man im Synthie Pop zu Hauf komponierte. Der Hörer wird das Gefühl nicht los, dass es sich hier fast um eine rockigere Version des Smash Hits „Blinding Lights“ handeln könnte, gerade weil der angenehme Drive ähnlich ist. Dass Duda den Bass sehr melodiös spielt fügt sich wunderbar in das Gesamtbild ein, lediglich bei „O2 Panic Room“ flirtete die Truppe so offen mit poppigen Bestrebungen.
In der Mitte offenbaren dezente Prog-Riffs die typische Handschrift und hält alles im Rahmen. So wie der Longplayer beginnt, so endet er auch, „Self-Aware“ rockt ungewöhnlich locker und euphorisch, die Orgel atmet Leichtigkeit. Die Eighties-Bezüge konzentrieren sich hier auf den Mittelpart der zur den ausleitenden Soundscapes überleitet. Jene ansatzweise Reggae-Anleihen fand man einst im Progressive Rock bei RUSH in jener Dekade, die ihre Ohren stets offen hatten. Die Elemente hier klingen fast wie eine Verbeugung vor den Größten der Großen, man höre nur das sphärische Solo, welches sie in der Art damals öfter so gezaubert haben.
Mehr Prog Rock gibt es bei „Big Tech Brother“, das mit flirrender Elektronik beginnt, die sehr verfremdet wurde. Das Spiel mit den Klängen beherrschten die Polen schon immer, wie man auch in den psychedelischen Spuren, besonders in „I´m Done With You“ nachhören kann. Mehr und mehr schälen sich Orgel und schwere Riffs heraus und generieren ein für sie typisches Bild inklusive einer Gesangsleistung von Duda, die wunderbar von sanft auf getragen switcht. In der Mitte bricht die Dynamik ein, ein Piano klimpert leise vor sich hin, bevor es von percussiven Riffs übernommen wird, bis daraus Synths und die Leadgitarre entschweben.
Besagte Synthesizer von Michal Lapaj leiten fast zu „Post-Truth“ über, einem Beleg dafür, dass die introspektiven Themen der Lyrics dieses Mal mehr Bezug zum Weltgeschehen haben. Sicherlich die typischste Nummer auf „ID.entity“ mit leichten orientalischen Anleihen in den Harmonien zwischen Orgel und sechs Saiten. Die Riffs von Meller dürfen auch gerne etwas metallisch anziehen, seit jeher ein Baustein im Gefüge von RIVERSIDE, dazu solieren die Synths wild. Gegen Ende dann wieder die artrockigen Kontraparts mit feinen Leads, wie sie Grudzinski so zelebriert hat und erneut dem neu entdeckten Piano.
Herzstück der Scheibe ist sicher der Longtrack „The Place Where I Belong“, der zweitlängste offizielle ihrer Geschichte. Hier halten Akustikklänge Einzug, die man bevorzugt auf „Rapid Eye Movement“ verwendet hat, bevor der Bass langsam anzieht. Analoge Tasten und Leads duellieren sich darüber, während sich der Gesang immer wieder öffnet. Wie sie im weiteren Verlauf durch verschiedene Stimmungen und Welten wandeln, die ineinander übergehen ist große Kunst, und erinnert ebenso an die Frühphase inklusive psychedelischer Schlagseite.
Die Band erweitert auf dem achten Studiowerk ihr Spektrum, findet aber gleichzeitig wieder zu sich selbst zurück. Vorbei die alternativen Klänge und allzu modernen Sounds, hier wird teilweise klassischer Prog zitiert. Es dauert bis auf den Opener zwar eine Zeit, bis sich alles erschließt, doch es lohnt sich, in die Stücke einzutauchen und sich entfalten zu lassen, um die tiefe Musikalität zu erleben. Nach wie vor eine der relevantesten Bands, die nicht nur ihre Vergangenheit feiern muss wie auf der letzten Tour.
8 / 10