RUSH - Moving Pictures (40th Anniversary)

04 rush

VÖ: 15.04.2022
(Anthem/Mercury/Universal Music)

Genre: Progressive Rock

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RUSH

Um es vorweg zu nehmen: Es ist die Platte! Wenn die Menschheit jemals der Vollendung näher war, dann hier, niemals wieder wurden alle Parameter, welche Musik ausmachen so perfekt bedient, sei es Songwriting, Spielfreude, Anspruch, Melodieführung, Arrangements oder Produktion. RUSH haben sich über sieben Alben hinweg von traditionellem Heavy Rock über Progressive Rock zu einer völlig eigenständigen Formation gewandelt, und blieben doch immer bei sich.
Weil es ihnen stets gelang neue Einflüsse einzuarbeiten, ohne ihre Identität zu verlieren. Nun stand die Welt an der Schwelle von den Siebzigern in die Achtziger, was sich an der Musik ebenso manifestierte wie an den Kanadiern allgemein. Das Team um Produzent Terry Brown, Toningenieur Paul Northfield im „Le Studio“ in Morin Heights“ bündelte Kräfte und Erfahrung der letzten Jahre. „Moving Pictures“ ist Dokument jener spannenden Ära, nun wird es zum Jubiläum mit einer umfangreichen Neuauflage gewürdigt.

Was alleine der Opener an Facetten aufweist, bringen manche Acts nicht auf einem Album unter. Der spacige Moment, dann die von vergleichsweise einfachen, aber sehr präsenten Rhythmen getragene Zeile, bevor das kantige Riff hinein kracht. Die Melodien erscheinen flüssiger als bisher gewohnt, ein typisches Zeichen des damaligen Zeitgeistes. Das hob die Formation auf eine neue Zugänglichkeit, welche sich auf dem Vorgänger „Permanent Waves“, speziell im Hit „The Spirit Of Radio“ abzeichnete. Als wäre das nicht schon genug, dreht „Tom Sawyer“ plötzlich auf, bringt ungeahnte Wendungen rein, so spontan wie großartig choreographiert.

Wenn man nach Tempowechseln die zweite Strophe erwartet, meldet sich der einleitende Oberheim Polyphonic zu Wort, bevor auf dem Bass die Überleitung zum Solo transportiert wird. Die leicht psychedelische Atmosphäre zeugt vor allem davon, wie sich Alex Lifeson als Gitarrist entwickelt hat. Vom Ton und Spiel her bislang ungehört, mehr Flächen und Stimmungen als klassisches Sologebaren. Neil Peart erwacht da auch zu mehr Leben, nachdem er sich angenehm zurück hielt, seine Fills steigern sich zu Soloattacken, die immer wieder vom Grundthema durchbrochen werden, umso die Dynamik explodieren lassen. Was der „Professor“ hier in einen gewöhnlichen Studiosong reinpackt ist schlicht nicht von dieser Welt.

Die folgende Traumsequenz auf Basis von Richard S. Foster´s „A Nice Morning Drive“ ist ebenso ein Füllhorn an Melodien, die ähnlich ans Laufen kommen wie die besungenen Turbomotoren. Führt der rockige Grundton „Red Barchetta“ zurück zu den Anfangstagen, so hat sich Geddy Lee als Vokalist deutlich weiterentwickelt. Zwischendurch darf auch mal richtig schnell gezockt werden, mühelos ändern RUSH den Anschlag. Offene Münder hinterlässt die Präzision, mit der zu Werke gegangen wird, alles mündet so genau auf den Punkt, was das Tempo noch zu forcieren scheint.
Ebensolchen Drive erzeugen die Drei streckenweise mit dem abschließenden „Vitals Signs“, in dessen Bridge die Gitarre Eighties-mäßig knallt. Daneben überrascht der Einfluss von Reggea-Klängen, die zu jener Zeit überall populär waren und auch im Rockkontext wie etwa bei THE POLICE ihre Spuren hinterließen. Waren sie auf der Single des Vorläufers noch Beiwerk, so gelang hier die komplette Integration in den eigenen Kosmos. Das eröffnete Lee auch die Möglichkeit sich auch seinen vier Saiten richtig auszutoben.

Höhepunkt der Hinwendung zu geradlinigeren Melodiebogen war allerdings sicher „Limelight“, dessen packendes Eingangsriff schon nach Stadion schrie. Dass die Strophe sich etwas zurück nahm, war ein Kunstgriff aus dem seinerzeit boomenden AOR. Fließt der Chorus anfangs noch ruhiger daher, so entwickelt er sich zu einem reißenden Strom der Emotionen, der alles mitnimmt. Mit seinen eher sparsamen, dafür umso akzentuierteren Beats treibt Peart von hinten an. So ist es in Lifeson an der Dynamik zu spielen, was ihm im Mittelteil gelingt. Hier nimmt er vieles vorweg, was in den kommenden Jahren Standard werden würde, die langen Töne, das komplette Schweben des Solo, und die Art wie er songdienlich auszuleiten vermag, um die Sphärik zu konservieren.

„Moving Pictures“ war auch ein Abschied von den alten RUSH, dieses Aufeinanderprallen der Ären macht dieses Werk so spannend. Mit „The Camera Eye“ findet man den letzten Longtrack der Bandgeschichte, eine Disziplin, in der man ebenfalls Maßstäbe setzten konnte. So geht es auch stilistisch zurück in die Siebziger, Lee bedient sich Synthesizern, die denen von „Xanadu“ ähneln. Vom Aufbau her steigert man die Intensität über mehr als drei Minuten bis der Gesang einsetzt, ein im Art Rock gängiges Motiv. Wenn die Vocals kommen wirken sie ungemein lebendig, und reflektieren damit das pulsierende Leben der besungenen Metropolen. Im Malen musikalischer Bilder waren die Herren noch immer Meister.

Den Weg in die neue Dekade beschreiten sie jedoch nicht nur mit dem erhöhten Melodiereichtum, sondern auch eben mit der Hinwendung zeitgemäßer Synthie-Technik, welche in den nächsten Jahren ihren Sound mitbestimmen sollte. Diese harmonieren wunderbar mit dem immer flächigeren Spiel von Lifeson. Ein erstes Statement geben sie auf „Moving Pictures“ mit „Witch Hunt“ ab, welches alles Folgende definieren sollte. Fast schon doomig schleppt sich das schwere Riff heran, die Atmosphäre ist düster-beklemmend, genau wie das besungene Mobbing-Verhalten.
Genial pointiert der viel zu früh verstorbene Schlagzeug-Gott das Geschehen, bevor sich die Bridge weit öffnet. Die Stimmung bleibt noch erhalten, bis im Chorus die Tasten übernehmen und mit einem klaren Fingerzeig Richtung Wave und Synthie Pop alles auflösen. Man schwebt auf ihren Klängen davon in ungeahnte Sphären, Drumrolls und sechs Saiten schneiden immer wieder rein, werden aber von den Wogen davon getragen. In den nächsten Jahren soll es viele solcher Stücke geben, aber nie wieder sollten darin solche heftigen Reminiszenzen kollidieren.

An Einfluss und zukunftsweisenden Sounds sollte aber ausgerechnet das Instrumental noch einen draufsetzen. „YYZ“ ist der Morsecode für den Flughafen ihrer Heimatstadt Toronto, auf dem der Rhythmus des Titels aufgebaut ist. Mit abgedrehten Riffs und Bassfiguren jammt das Trio über dieses Grundthema, streift den Jazz und treibt seine verschachtelten Riffs auf die Spitze. Pearts präzises Drumming ist wie geschaffen für diese Patterns. Schon alleine dass diese irren Abfahrten später auf Konzerten mitgesungen wurden zeigt ihre Bedeutung, Generationen versuchten sich daran. RUSH haben hier den Prog Metal mit all seinen Auswüchsen im Alleingang aus der Taufe gehoben.

Neben der remasterten Version dieses Meisterwerks gibt es noch zwei weitere Silberlinge in der vorliegenden Edition, auf welcher der Konzertmitschnitt „Live From YYZ 1981“ enthalten ist, der selbstredend in ihrer Heimatstadt aufgenommen wurde. Beim Remaster wirkt das Klangbild voller und runder, einige Details werden mehr hervorgehoben. Jene klarere Tongestaltung führt allerdings im Schlagzeugbereich dazu, dass gerade die Toms abgeregelt, fast schon getriggert klingen und nicht ausschwingen.
Die Liveaufnahme hingegen zeigt eine Band absolut auf ihrem Zenit, als sie in einer Ära des musikalischen Umbruchs Erbe und Zukunft perfekt koexistieren ließ. Eine Weiterentwicklung von „Exit…Stage Left“, das Live-Überwerk, welches sich einst an „Moving Pictures“ anschloss. Zwar fehlt „Passage To Bangkok“, dafür gibt es mit den ersten beiden Parts des Titeltracks gleich zwei Nummern aus „2112“ als Eröffnung.
Auch das kurze improvisierte Instrumental, welches den Folk-Part mit „The Trees“ und „Xanadu“ einläutet ist vorhanden. Bis auf „Witch Hunt“ gibt es alle Stücke ihres Opus Magnum zu hören, selbst das rare „The Camera Eye“. Wobei „Beneath, Between, Behind“ vom „Fly By Night“ auch eher selten im Set auftauchte. Am Ende finden wir bei beiden Konzertdokumenten das Instrumental „La Villa Strangiato“.

Nicht nur da beweisen sie ihr phantastisches Zusammenspiel, das so auf den Punkt kommt, dass es einem den Atem verschlägt. Um solche Klänge zu kreieren benötigen andere Künstler mindestens die doppelte Besetzung auf der Bühne. Die würden solches Material auch nicht vierzig Jahre in der Mottenkiste verstauben lassen, sondern eher auf den Markt werfen. Klar kann die heutige Technik vielleicht den einen oder anderen klanglichen Patzer ausmerzen, doch diese Magie ist nicht einfach so zu erzeugen.
Hier offenbart sich auch wie stark das Bandgefüge, wie sehr man freundschaftlich verbunden war, das Verständnis untereinander ist fast blind. Ein eigenständiges Drumsolo gibt es noch nicht, es wurde einfach in „YYZ“ integriert, wie eben auch schon auf „Exit…Stage Left“. Zum Abschluss des regulären Sets servieren uns die Drei ein Medley aus Songs der frühen Phase, wobei die Reggea-Eröffnung von „Working Man“ großartig improvisiert ist, und welches analog zum Auftakt mit dem „2112-Grande Finale“ endet.

Sehen lassen kann sich auch die Aufmachung des Fold-Out-Digipacks, in dessen Innenteil die effektbehafteten Schwarz-Weiß-Bilder der Musiker aus dem Original-Layout zu sehen sind. Dazu gibt es ein schönes Booklet mit vielen Liner Notes bekannter Musikergrößen, wobei die Zeilen von Taylor Hawkins eine sehr bittere und tragische Note bekommen. Obendrein wurde für jeden Song ein eigenes Artwork angefertigt, die in Surrealität dem Albumcover in Nichts nachstehen.
Hierfür war einmal mehr Covergestalter und Bandintimus Hugh Syme verantwortlich, der auch im Studio seine Meriten verdiente. Dies kann man vielleicht in der 5-LP-Version noch besser genießen. Gäbe es diese als Puzzle, der Schreiber dieser Zeilen hätte sie ebenfalls an der Wand hängen, weil es einfach die Platte ist! Wer bislang mit dieser Bildungslücke jenes epochalen, alles überstrahlenden Meisterwerks durch das Leben ging, sollte spätestens jetzt zugreifen.

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